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Von planlos bis zum Präsidenten - Die korsische Frage

Frankreich


Ein wenig hatte mich der Mut verlassen, als ich an diesem verregneten Sonntagnachmittag zum Hafen von Marseille lief. Es war der zweite Tag meiner zis-Reise auf den Spuren einer Autonomie (nicht Unabhängigkeit!) Korsikas. Als ich mein Ticket für die Fähre löste, gab es zumindest einen kleinen Lichtblick.

Ein wenig hatte mich der Mut verlassen, als ich an diesem verregneten Sonntagnachmittag zum Hafen von Marseille lief. Es war der zweite Tag meiner zis-Reise auf den Spuren einer Autonomie (nicht Unabhängigkeit!) Korsikas. Als ich mein Ticket für die Fähre löste, gab es zumindest einen kleinen Lichtblick. Auf meinem Fahrschein stand „Salon des Fauteuils“ – zu Deutsch „Sesselsalon“, und für einen Moment war ich froh, dass ich für mein preisgünstiges Ticket in so etwas Edlem wie einem „Sesselsalon“ untergebracht sein sollte. Dieses kleine Licht der Hoffnung erlosch aber, als ich sah, dass es sich beim „Salon des Fauteuils“ um einen fensterlosen Raum im Bauch des Schiffes handelte und dazu noch die Bezüge der „Sessel“ nicht besonders appetitlich aussahen.

Zu allem Überfluss konnte ich den mir zugeteilten „Sessel“ nicht finden. Ich fragte also einen älteren Herrn nach der Sitzordnung. Wir merkten schnell, dass Französisch für uns beide nicht die Muttersprache war und kamen darüber ins Gespräch. Er hieß Patrick und war, nachdem er (vor immerhin schon ca. 20 Jahren!) in Rente gegangen war, von England nach Korsika ausgewandert. Ich erzählte ihm, dass ich der korsischen Autonomiefrage auf der Spur war. Zu meiner Überraschung stellte sich heraus, dass er den korsischen Separatistenführer Yvan Colonna persönlich gekannt hatte! Zwei Monate zuvor hatte Colonnas Tod in einem französischen Gefängnis zu gewaltsamen Unruhen auf Korsika geführt, welche der Auslöser für meine Reise waren.

Zum Abendessen gingen wir beide unserer Wege, aber später am Abend liefen wir uns auf der Fähre wieder über den Weg. Als Patrick mich nach meinem Plan für meine Recherchen fragte, gab ich zu, dass dieser noch sehr unkonkret war. An einem der Tische in der Cafeteria begannen wir, meine Reise zu planen. Am Rande erwähnte er, dass es natürlich die Krönung meiner Reise wäre, den korsischen Präsidenten Gilles Simeoni zu treffen.

Am nächsten Morgen, direkt nach unserer Ankunft im Hafen der korsischen Stadt Ajaccio, rief Patrick einen seiner engsten Freunde an. Dieser war zugleich auch der beste Freund des verstorbenen Separatistenführers Yvan Colonna und gab uns die Adresse des Radiostudios von Félix, einem überzeugten Nationalisten. Bei Félix erfuhr ich erstmals, wie sehr das Autonomiestreben der korsischen Nationalist*innen mit ihrem historischen Narrativ zusammenhängt. Korsika hatte nicht immer zu Frankreich gehört, son- dern war sogar für kurze Zeit im 17. Jahrhundert unabhängig. In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts entwickelte sich als Reaktion auf kulturelle, umweltbedingte und politische Ereignisse der moderne korsische Nationalismus.

Nach unserem Gespräch gab Félix mir die Telefonnummer eines Nationalisten aus der Partei des korsischen Präsidenten Gilles Simeoni. Am Anfang war mir ein wenig unwohl dabei, dass ich von einem zum nächsten Nationalisten weitergereicht wurde und ich musste mich mit meiner Voreingenommenheit auseinandersetzen. Mir wurde klar, dass sich der korsische Nationalismus von meinem Verständnis von Nationalismus deutlich unterscheidet. Es geht nicht darum, an Territorium zu gewinnen, Minderheiten auszuschließen und Völkermorde zu begehen – woran man vielleicht vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus denkt. Auf Korsika möchte man vielmehr verhindern, dass sich das eigene Kulturerbe, inklusive Sprache und Musik, und die eigene kollektive Identität verlieren. Der korsische Nationalismus ist auch keine politisch „rechte“ Bewegung – seine Mitglieder finden sich überall im politischen Spektrum; womit ich nicht sagen möchte, dass es auf Korsika nicht auch Extremist*innen gibt.

Ich rief den Kontakt, den mir Félix gab, also an. Über Begegnungen mit verschiedenen korsischen Nationalist*innen kam es dazu, dass ich nicht einmal zwei Wochen, nachdem auf der Fähre der Name Gilles Simeoni gefallen war, dem Präsidenten des Conseil Éxécutif (korsischer Exekutivrat) die Hand schüttelte.

Rückblickend war die Begegnung mit Patrick wahres zis-Glück und eine echte Schlüsselbegegnung, die es mir erlaubte, mir das dicht verzweigte korsische Netzwerk zu erschließen. So bin ich unter anderem eines Morgens um 2.30 Uhr aufgestanden, um mit einem traditionellen korsischen „berger“ (Ziegenhirten) Käse herzustellen; ich habe im korsischen Radio einen Kandidaten für die anstehenden Parlamentswahlen interviewt; ich habe Jean-François Bernardini, den Leadsänger der bekanntesten korsischen Musikgruppe „I Muvrini“ zu einer Umweltdemonstration begleitet; ich habe mit Politiker*innen des „Assemblée de Corse“, der korsischen Regionalversammlung, zu Mittag gegessen; zuletzt habe ich mit den führenden Politologen an der korsischen Universität gesprochen.

Durch diese vielfältigen Begegnungen ist mir bewusst geworden, dass das Autonomieprojekt nicht nur eine Verwaltungsfrage ist, sondern tief in der Kultur und der Identität der Kors*innen verankert ist. Ein Nationalist bezeichnete die korsische Autonomie mir gegenüber als eine logische Konsequenz aus der Geschichte. Gleichzeitig nehme ich aus meiner Reise die Erkenntnis mit, wie unterschiedlich man „die“ Geschichte erzählen kann.

Als ich an jenem verregneten Sonntagnachmittag zu Beginn meiner Reise völlig durchnässt im schäbigen „Sesselsalon“ der Fähre stand, hätte ich nicht im Traum gedacht, dass sich auf meiner zis-Reise eine solch glückliche Kette von Erfahrungen und Begegnungen ergeben sollte, die es ohne meine zis-Reise wohl nie gegeben hätte. Als Touristin hätte ich vermutlich nicht viel mehr als die wunderschönen Sandstrände und die beeindruckenden Berge Korsikas kennengelernt.

Zis hat mir gezeigt, was es bedeutet, erfüllt zu reisen. Die Neugier und Offenheit meiner zis-Reise will ich mir für alle weiteren Reisen bewahren. Nicht nur, wenn ich noch ab und zu E-Mails mit Patrick austausche, zaubern mir die Erinnerungen an meine Erlebnisse und Begegnungen auf Korsika ein Lächeln auf die Lippen. Dafür bin ich dankbar.


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