Als ich dann endlich doch einen Bus fand, hielt der vor einem verlassenen Schrottplatz am Meer, an dessen Eingang die vergilbten Anschläge der Zeltplatzpreise im Wind baumelten. Mir blieb also nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge umzukehren. So traf ich am Bahnhof auf Adriá, der mich spontan in seine Studenten-WG einlud.
Diese Tage in Tarragona und das Erleben eines traditionell katalonischen Festes stellten einen der Höhepunkte meiner zis-Reise dar, die mich in vier Wochen von Barcelona über Tarragona nach Balaguer und schließlich nach Perpignan in den französischen Teil Kataloniens führte. Innerhalb dieser vier Tage erlebte ich beispielhaft, wie sehr Tradition und Moderne in Katalonien miteinander verwoben sind. Uralte Bräuche wie die Castellers-Gruppen, die sich zu Menschentürmen formen, werden von jungen Menschen gelebt und sie werden immer beliebter. Abends wechseln sich traditionelle Bands nahezu übergangslos mit katalonischem Rock ab, immer noch wird in riesigen flachen Schalen Rum flambiert und ausgeschenkt; die katalanische Sprache lebt.
Neben dieser alten Kultur, dessen Lebendigkeit mich überraschte und die ich etwas beneidete, lernte ich auf meiner Reise auch die politischen Konflikte der Region kennen. Das heutige Katalonien, das eine Jahrhunderte alte Geschichte der Unterdrückung mit sich trägt, ist in politischer Hinsicht stark fragmentiert. Die Parteien positionieren sich nicht nur entlang des Links-Rechts-Schemas, sondern richten sich zusätzlich auf einer Achse von Pro-Spanisch bis Katalanistisch aus. Die bunte Parteienlandschaft der Provinz spiegelt dies wieder: Während einige kleine Parteien so weit gehen, einen völlig eigenständigen Staat Katalonien zu fordern, verurteilen andere die Sprache und Kultur als rückständig und befürworten die stärkere Anbindung an den spanischen Zentralstaat. Auf meiner zis-Reise traf ich Vertreter aller Parteien und Meinungen. Meine Frage nach der politischen Kultur Kataloniens, konnte ich jedem stellen, der mir begegnete: Studenten, Abgeordneten, dem alten Herr auf seinem Spaziergang, der hektischen Unternehmerin, dem Familienvater, der französischen Journalistin. Ich erhielt die unterschiedlichsten Antworten und Geschichten, die sich im Laufe mehrerer Wochen zu einem mosaikhaften Bild zusammensetzten.
Wenn ich heute an diese Wochen zurückdenke, sind es immer die Abende bei den verschiedenen Menschen, die mir am stärksten in Erinnerung geblieben sind. Abende wie bei Adriá und den Studenten in Tarragona, Abende auf einem kleinen Balkon in Barcelona mit dem unglaublich geschichtsbewanderten Paco, Abende in der Küche eines Bauern aus der Provinz, Nächte im Studentenleben, Abende im Zug, einsame oder mit Fremden. Es ist ein ganz besonderes Gefühl, sich einen kleinen Flecken der Erde gewissermaßen „erschlossen“ zu haben. Die alten Innenstädte und die weißen Strände, die ganzen Sehenswürdigkeiten links liegen zu lassen und stattdessen hinter die Gardinen der Häuser zu sehen. Wenn ich heute eine Karte von Katalonien ansehe, erinnere ich mich an Gesichter, nicht an die Orte.
Eine Woche nachdem ich von meiner Reise wieder gekehrt bin, habe ich begonnen, Politikwissenschaft zu studieren. Deshalb kommen mir im Nachhinein meine Erkenntnisse oft recht platt vor und zu naiv. Manchmal wünschte ich, die Zeit zurückdrehen zu können, und jetzt, da ich von Politik mehr zu verstehen glaube, alle Personen, denen ich begegnet bin, noch einmal wiederzusehen und genauer befragen zu können. Vor allem aber denke ich mit Begeisterung an diese ganz besonders intensive Zeit und Freiheit zurück. Ich glaube, dass es neben den vielen anderen Erfahrungen vor allem eine Art grundsätzlicher Optimismus ist, der mir durch diese Reise eingeimpft wurde -[nbsp] und diese so unvergesslich macht.