Mit viel Optimismus und Abenteuerlust startete ich meine zis-Reise, auf der ich, vier Wochen mit dem Fahrrad unterwegs, junge Menschen in Apulien, Italien, über ihre Zukunftsvisionen interviewen wollte.
Auf einer Fahrradtour kann einem Praktisches und weniger Praktisches widerfahren. Mir passierte gleich zu Beginn meiner Reise etwas, was zum weniger Praktischen zählt: Mein Fahrrad wurde gestohlen.
Nur für eine halbe Stunde hatte ich das Rad an einen Laternenpfahl angeschlossen. Doch als ich wiederkam, war es weg. Also stand ich dort, mitten im fremden Bari, mit zwei schweren Fahrradtaschen in den Händen und wusste nicht weiter. Sollte ich die Reise abbrechen? Als ich heulend auf der Straße saß, kamen so- fort zehn Menschen zur Hilfe und fragten mich, was geschehen sei. Einer von ihnen begleitete mich – meine schweren Fahrradtaschen schleppend – zur nächsten Polizeistation.
Der dramatische Zwischenfall stellte sich als ein Wendepunkt heraus. Mein ursprünglicher Plan war plötzlich futsch, aber der Zwang zur Spontanität eröffnete mir viele neue Möglichkeiten. Ich kaufte einen Wanderrucksack und reiste mit Bus und Bahn weiter. Dabei ergaben sich viele unerwartete spannende Begegnungen, die mir wichtige Erkenntnisse zu meinem Reisethema vermittelten. Neun Tage arbeitete ich auf dem Hof LUNA, einer von vier jungen Frauen gegründeten sozialen Initiative, die fair und ökologisch Landwirtschaft betreibt und die traditionelle Landwirtschaft Salentos wiederbeleben will. Wegen der coronabedingten Verschiebung meiner Reise hatte ich ein Jahr lang Zeit gehabt, Italienisch zu lernen, konnte also meine Gesprächpartner*innen in ihrer Muttersprache interviewen und so tiefe Einblicke in ihre Lebensrealität erhalten.
Apulien ist von hoher Jugendarbeitslosigkeit, gescheiterten Wirtschaftsreformen und einer großen fuga dei cervelli (wörtlich: Flucht der Gehirne) geprägt. Hinzu kam die Pandemie, in der der Tourismus, einer der größten Wirtschaftszweige, plötzlich zusammenbrach. Umso mehr überraschte es mich, wie zuversichtlich und engagiert sich viele meiner Gesprächspartner*innen einsetzen, von Fridays for future-Aktivistin*innen, die mit dem Bürgermeister verhandeln, bis zu einem Kunstkollektiv, das die Dorfgemeinschaft in internationale Kunstprojekte involviert: Viele junge Menschen wandern nicht aus, sondern bleiben, um für ein besseres Morgen zu kämpfen.
Als ich an einem Abend keine Unterkunft für die Nachthatte, empfahl mir eine Mädchengruppe, die ich interviewt hatte, zu einem Kloster zu gehen. Wegen des christlichen Gebotes der Nächstenliebe könne man mich da schließlich nicht abweisen. Dort wurde ich erstmal eher skeptisch empfangen. Also zeigte ich mein Empfehlungsschreiben von zis. Doch das Schreiben entsetzte den Klosterleiter geradezu: „So etwas Verrücktes machen die Deutschen mit ihren Kindern? Das ist doch gefährlich!“ Ich wurde für die Nacht aufgenommen und bekam Weintrauben aus dem Klostergarten geschenkt.
Rückblickend kann ich nur sagen: Ja, zum Glück machen „die Deutschen so etwas Verrücktes“ mit ihren Kindern.