Juli 2010. Letzte Bergetappe. Tourmalet. Alberto Contador und Andy Schleck ganz vorne, alle anderen abgehängt. Zehn Kilometer erbitterter, mitreißender Kampf. Keiner kann den anderen abschütteln. Schleck gewinnt die Etappe um nicht einmal eine Radlänge und verliert doch die Tour – Contador fährt ein paar Tage später in Gelb in Paris ein. 39 Sekunden Vorsprung.
Es waren Momente wie diese atemberaubende Schlacht gegen den ärgsten Konkurrenten und neun Prozent Steigung, in denen ich viel darum gegeben hätte, wieder hautnah dabei zu sein, nicht vorm Fernseher zu sitzen, sondern im Ziel zu stehen, mit einer Hundertschaft von Journalisten aus aller Welt – so wie während meiner zis-Reise, diesem schier unendlichen Abenteuer auf Frankreichs Straßen im Sommer 2009. Vier Wochen war ich unterwegs, mehr als drei davon der Tour de France auf den Fersen. Ich bin einmal quer durch Frankreich gereist, nach Barcelona, Andorra und in die Schweiz.
Bis heute habe ich keine Ahnung, wie ich es überlebt habe; wie ich die ständige Ungewissheit ausgehalten habe, morgens nicht zu wissen, wo ich abends schlafen werde und wie ich zum nächsten Ort komme; wie ich es geschafft habe, einfach immer weiter zu machen. Ich glaube, ich hatte Glück. Und Mut.
Ich hatte den Mut, immer wieder meine eigenen Grenzen zu überwinden ohne zu wissen, was mich dahinter erwartet. Ich hatte den Mut, die unmöglichsten Fragen zu stellen: Ob es nicht möglich wäre, eine Presseakkreditierung zu bekommen. Ob man mich vielleicht heute Abend mitnehmen könnte. Wie das mit dem Doping sei.
Manchmal habe ich erreicht, was ich wollte, manchmal auch nicht. Und immer wieder viel mehr als ich mir jemals erträumt hätte. Ich bin mit dem deutschen und dem amerikanischen Fernsehen gereist, mit fünf unglaublichen katalanischen Journalisten, die mich abends zum Essen eingeladen haben, mit amerikanischen Online-Reportern, die ich in Andorra im Skilift getroffen hatte. Ich bin nächtelang in einem klapprigen blauen Bus über Frankreichs Straßen geholpert, zusammen mit dem Lehramtstudenten Christoph und der HR-Drahtlostechnik.
Ich habe mit den besten Radsportlern der Welt gesprochen. Ich habe die Qual und den Triumph in ihren Gesichtern gesehen. Ich habe ihre Enttäuschung und ihren Jubel gehört. Ich habe ihren Schweiß gerochen. Ich habe die Begeisterung und Euphorie für die Tour gelebt und war gleichzeitig Zeuge ihrer Zerrissenheit, ihrer Machenschaften, ihrer Verwerflichkeit und Fehler.
Als Xavier, einer der Katalanen, vor der Tour in diesem Sommer fragte, ob ich auch am Start sei, musste ich leider mit „nein“ antworten. Aber irgendwann, das ist der Plan, werde ich wieder dabei sein, wenn die Tour de France ein ganzes Land in Atem hält, mitreißt, polarisiert, wenn neue Helden geboren werden und alte Helden stürzen. Bis dahin bleibt die Erinnerung an meinen unglaublichen Juli 2009.
Manchmal spielen sie immer noch „When love takes over“ im Radio, dieses Lied, mit dem während der Tour tagein, tagaus die Zone Téchnique beschallt wurde, und dann muss ich an meine zis-Reise denken. An die vielen Tage direkt hinter dem Ziel, an die Spannung, das Gerangel um die besten Fotos und O-Töne, die Hitze, den Staub. An den strömenden Regen von Barcelona. An die Momente, in denen ich mich am liebsten an eine Straßenecke gesetzt und geheult hätte. Und an die, in denen ich mir gewünscht habe, dass es nie aufhört. An den Campingplatz in Bourg Saint-Maurice, auf dem ich nach zwei Tagen endlich mal wieder duschen konnte.
An mein Verbot weitere Fragen zu stellen, nachdem die letzte sich auf Doping bezogen hatte, an meine Wut und Enttäuschung darüber.
An meine Ankunft in Paris, völlig fertig von den vergangenen Wochen und doch so unbändig stolz es geschafft zu haben.
An Bob, den Kommentator des amerikanischen Fernsehens, der in Paris zu seinem Kollegen Benjamin sagte: „Look at her man, she’s only 18 and she survived the Tour.“
Egal wie oft ich später als „richtige Journalistin“ der Tour durch Frankreich folgen werde, egal ob ich den Radsport jemals ganz verstehen werde oder nicht, diese vier Wochen zis-Reise werde ich nie vergessen, diese vier Wochen in denen ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich „on the road“ war, in denen ich gelitten und gekämpft, gewagt und gewonnen habe.
Was mich am meisten geprägt hat, waren meistens nur kleine Augenblicke, Augenblicke der Verzweiflung, der Freude, des Triumphs. Aber diese Augenblicke werden für immer bleiben.